Zwangsmigration und Holocaust. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944

Das Projekt steht in der Kontinuität unserer Forschungsarbeiten zum Holocaust in Belgien und Frankreich. Die Judenverfolgung in Westeuropa war durch ein Paradox gekennzeichnet. Nachdem das NS-Regime zuerst den größeren Teil der Juden gewaltsam aus Deutschland und Österreich vertrieben hatte, wurde etwa die Hälfte derer, die bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in die Niederlande, nach Belgien oder Frankreich hatten fliehen können (schätzungsweise 60.000 Personen), während der Zeit der deutschen Besatzungsherrschaft über Westeuropa mit hohem polizeilichen Aufwand wieder aufgespürt, festgenommen, interniert und – zusammen mit einem großen Teil der dort ansässigen Juden – in die Vernichtungslager des Ostens ge­bracht. Mit Beginn der Deportationen aus Westeuropa im Sommer 1942 setzte dann inner­halb der von den Deutschen kontrollierten Territorien eine erneute, massenhafte Fluchtbewe­gung von Juden aus den Niederlanden, Belgien und dem besetzten Frankreich ein, deren erstes Ziel nun die noch unbesetzte französische Südzone war. Beide Sachverhalte sind bisher kaum Gegen­stand historischer Forschung gewesen.

Ein Teil der Vorgeschichte findet sich in den einschlägigen Standardwerken zur Emigration der Juden aus Nazi-Deutschland und in einer Reihe von Länderstudien beschrieben. Die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge aus dem deut­schen Reichsgebiet und Österreich ist bislang vor allem von der älteren Emigrations- und Exilforschung oder im Rahmen von Darstellungen der Flüchtlingspolitik der potentiellen Aufnahmestaaten behandelt worden.[1] Dabei wurde der Schwerpunkt zumeist auf die 30er Jahre gelegt. Auch galt das Interesse vorwiegend den vertriebenen Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern und antifaschistischen Oppositionellen – also den prominenten Namen des Exils. Die vielen namenlosen Flüchtlinge sind hingegen als geschichtliche „Subjekte“ kaum in den Blick genommen worden. Erst in jüngerer Zeit wuchs das Interesse am „Exil der klei­nen Leute“.

Eine grundlegende, sozialwissenschaftlich-statistisch orientierte Gesamtdarstellung der jüdi­schen Emigration legte schon Anfang der 80er Jahre der amerikanische Forscher Herbert A. Strauss vor.[2] Bei den von Strauss aufgrund statistischer Unterlagen angeführten Zahlen (60.000 jüdische Flüchtlinge in Westeuropa, davon 30.000 Deportationsopfer) handelt es sich allerdings um Schätzungen, die auf einer erweiterten Quellenbasis überprüft und gegebenen­falls korrigiert werden müssten.

Die historische Literatur hat das Thema „Selbstbehauptung und Widerstand“ von Juden zu­meist nur in Bezug auf organisierte Strukturen betrachtet, etwa im Zusammenhang mit den Rettungsbemühungen jüdischer Organisationen und Hilfswerke oder als Teil der verschiede­nen europäischen Widerstandsbewegungen gegen die deutsche Besatzung. Hinzu kommt, was nicht zuletzt durch die Überlieferung von Zeugenberichten bedingt ist, dass die Überlebenden und Geretteten im Mittelpunkt stehen, ebenso die Helfer und Retter, nicht aber die Opfer des Holocaust, deren Spuren die Nazis auszulöschen versuchten. Dabei zählen Fluchten als sozia­les Massenphänomen, als kollektive Reaktion auf Verfolgung und drohende Vernichtung, zu den wichtigsten „individuellen Überlebensstrategien“ (Annie Kriegel) der Juden während der NS-Zeit. Zudem lässt das Fluchtverhalten indirekte Rückschlüsse darauf zu, was die jüdische Bevölkerung über den tatsäch­lichen Zweck der Deportationen ahnte oder wusste.

Allerdings gibt es nur wenige Forschungsansätze zu den grenzüberschreitenden Fluchten von Juden. Einige Regionalstudien befassen sich mit Fluchten und Fluchthilfe beispiels­weise im deutsch-niederländischen bzw. deutsch-belgischen Grenzgebiet. Arbeiten zum Einsatz deutscher Zollbehörden und poli­zei­­licher Grenzschutzstellen im besetzten Westeuropa sind nicht verfügbar. Eine sozial- und wirtschaftshistorische Publikation über die französische Demarkations­linie schließt insofern eine Forschungslücke, als hier ausführlich auf die Fluchten aus der besetz­ten Nordzone in das unbesetzte Südfrankreich eingegangen wird.[3] (Dieser Sachverhalt bleibt in unserem Projekt daher ebenso ausgeklammert, wie die Fluchten über die Schwei­zer Grenze und die Fluchtroute von Frankreich nach Spanien, zu denen jeweils Ver­öffentlichun­gen vorliegen.) Demgegenüber hat das Faktum, dass noch während der Zeit der Massendeportationen zwischen 1942 und 1944 Juden aus den Niederlanden und Belgien nach Frankreich zu fliehen versuchten, in der bisherigen Forschung so gut wie keine Berücksichti­gung gefunden.

Schließlich knüpft unser Vorhaben an die internationale Forschung zum Holocaust in Westeuropa an. Die Deportation der Juden aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden ist relativ gut untersucht und dokumentiert. In den drei Ländern liegt dazu eine umfangreiche, kaum noch überschaubare wissenschaftliche Literatur vor. Auffällig ist dagegen, dass sich die jüngere deutsche Holocaust-Forschung – von Ausnahmen abgesehen – mit der Judenverfolgung in Westeuropa kaum beschäftigt hat. Zudem bleibt Desiderat, die „Endlösung der Judenfrage“ in den verschiedenen europäischen Ländern in komparatistischen Studien zu untersuchen und dabei vor allem auch Westeuropa einzubeziehen.

Eine länderübergreifende Untersuchung des Fluchtverhaltens von Juden in Reaktion auf Verfolgung und Deportation liegt bislang nicht vor. Um eine solche Unter­suchung exemplarisch durchzuführen, konzentrieren wir uns zunächst auf zwei Personen­kreise, nämlich

  • Juden aus Deutschland und Österreich, die nach 1938 in Belgien Zuflucht fanden, und
  • Juden aus den Niederlanden und Belgien, die während der Jahre 1941/42 bis 1944 nach Frankreich zu gelangen suchten.

Im einzelnen orientieren wir uns dabei an folgenden Leitlinien und Fragestellungen:

1. Wir untersuchen die Fluchtbewegungen von Juden aus Deutschland und Österreich nach 1938 und die Fluchten innerhalb des deutsch besetzten Westeuropas, die im Zeichen eines drohenden Genozids standen. Diese Fluchtbewegungen unterscheiden sich grundlegend von der Emigration der Juden aus dem deutschen Reichsgebiet in den ersten Jahren nach 1933. Unser Thema ist nicht das Exil und der Heimatverlust. Wir gehen davon aus, dass sich ab 1938 ein neuer sozialer „Flüchtlingstypus“ herausgebildet hat, dessen erzwungene Migration vor dem Hintergrund der Radikalisierung der Judenverfolgung und des Holocaust zu sehen ist.

2. Unser länderübergreifendes Forschungsprojekt legt den Schwerpunkt auf die Juden­verfol­gung und den Holocaust in Westeuropa, wobei wir Belgien als Aufnahmeland für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in den Vordergrund stellen. Zumindest in Deutschland ist kaum bekannt, dass das territorial beschränkte und dichtbesiedelte Belgien in den Jahren 1938/39, ungeachtet einer Asylpolitik, die sich kaum von den Abwehrmaßnahmen anderer europäischer Staaten unterschied, das wahrscheinlich wichtigste Aufnahmeland für verfolgte Juden aus Deutsch­­land und Österreich war. Wir untersuchen zudem erstmals die Fluchten von Juden aus den Niederlanden nach Belgien/Frankreich bzw. aus Belgien nach Frankreich nach Erlass des Auswanderungsverbots aus Westeuropa (Mai 1941) und während der Zeit der Massen­deporta­tionen von 1942 bis 1944. Nach unseren Vorrecherchen zu urteilen, war das Ausmaß dieser Fluchten weit größer als bisher vermutet.

3. Wir beschränken uns nicht auf die Nationalität, sondern wählen den letzten Wohnsitz als Kriterium; daher werden nicht nur Juden deutscher und ehemals-österreichischer Staats­angehörig­keit in die Untersuchung einbezogen, sondern auch staatenlose, polnische u.a. Juden, die in Deutschland und Österreich lebten. Bislang hat man bei der Definition der Personen­gruppe der Flüchtlinge aus Deutschland die Staatsangehörigkeiten als Anhaltspunkt genommen, was aus forschungspraktischen Gründen verständlich ist, jedoch der Spezifität dieser Flüchtlingsgruppe nicht gerecht werden kann. Das Problem zieht sich durch die ge­samte einschlägige Literatur, so fehlen beispielsweise auch im neuen Gedenkbuch des Bundes­archivs („Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewalt­herr­schaft in Deutschland 1933-1945“, Koblenz 2006) die Namen zahlreicher in Deutsch­land geborener, aus Westeuropa deportierter Juden ohne deutsche Staatsange­hörig­keit. Solche Auswahlkriterien berücksichti­gen nicht die transnationale Verfolgungs­geschichte der jüdi­schen Bevölkerung in Europa und sie führen dazu, dass der Zusam­menhang von Zwangs­migration und Holocaust methodisch ausgeblendet wird. Ein Blick nach Belgien zeigt die Dimension des Problems: Hier besaßen weniger als zehn Prozent der unter der deutschen Besatzung registrierten Juden die belgische Nationalität. Wir legen daher auch bei der Unter­suchung der Fluchten aus den Niederlanden und Belgien nach Frankreich ab 1941 den letzten Wohnsitz als Kriterium zugrunde.

4. Im Mittelpunkt stehen die individuellen Überlebensstrategien und Rettungsanstrengungen der vielen „namenlosen“ jüdischen Flüchtlinge, deren Spuren sich in zahllosen verstreuten Akten und Registraturen finden lassen. Unsere Forschung geht nicht von den Zeugnissen der Überlebenden aus, sondern von denen, die der national­sozia­listi­schen Vernichtungspolitik zum Opfer fielen. Wie und in welchem Umfang versuchten die Opfer des Holocaust, über deren Gegenwehr wir zumeist kaum Kenntnisse haben, sich und ihre Familien vor der Deportation in Sicherheit zu bringen?

5. Unsere Untersuchung soll exemplarisch klären, wie groß der Anteil der jüdischen Flücht­linge unter den Deportationsopfern im Verhältnis zur Zahl der Opfer aus der „autochthonen“ jüdischen Bevölkerung Westeuropas war. Darüber hinaus werden wir versuchen, das Flucht­ver­halten der Juden im Verhältnis zu anderen determinierenden Faktoren der „End­lösung“ (Form der deutschen Besatzungsherrschaft, Kollaborationsbereitschaft der natio­nalen Behörden, Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung) zu gewichten. Hängen die unter­schiedlichen Opferzahlen in Westeuropa (Niederlanden 75%, Belgien 44%, Frank­reich 25% der jüdischen Gesamtbevölkerung) auch mit den Fluchtbewegungen der Juden zusam­men?



[1] Zu Belgien vgl. insbesondere Frank Caestecker, Ongewenste Gasten. Joode Vluchtelingen en Migranten in der Dertiger Jaren, Brüssel 1993; seither zahlreiche weitere Veröffentlichungen des Autors.

[2] Herbert A. Strauss, Jewish Emigration from Germany. Nazi policies and Jewish responses, in: Leo Baeck Insti­tut, Year Book 25 (1980), S. 313-361; Year Book 26 (1981), S. 343-409.

[3] Eric Alary, La Ligne de démarcation, 1940-1944, Paris 2003.