Zwangsmigration und Holocaust. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944

Buchvorstellung

Insa Meinen / Ahlrich Meyer: Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938 - 1944. Paderborn 2013 

Abstract

Grenzüberschreitende Fluchten als Massenphänomen zählen zu den wichtigsten „individual survival strategies“ (Annie Kriegel) der Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft. Während die Vertreibung der Juden aus Nazi-Deutschland, die restriktive Asylpolitik der potentiellen Aufnahmeländer und das Exilschicksal vielfach erforscht und dargestellt wurden, sind die Aktivitäten der jüdischen Flüchtlinge in Westeuropa zwischen 1938 und 1944 bislang nur unzureichend erforscht worden. Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die Überlebensstrategien der verfolgten Juden selbst. Die Autoren schreiben aus der Perspektive der Opfer, sie gehen der Frage nach, wie jüdische Männer, Frauen und ganze Familien ihr Leben verteidigt haben. Das Buch berichtet nicht von den Geretteten, sondern von den „Untergegangen“ (Primo Levi), d.h. von den Rettungsanstrengungen derer, die trotz aller Bemühungen, ihren Verfolgern zu entkommen, am Ende verhaftet, deportiert und ermordet wurden.

Nach den Pogromen und dem Terror des Jahres 1938 bildete sich ein neuer Flüchtlingstypus heraus, dessen Lage durch erzwungene Migration gekennzeichnet war. Seinerzeit war Belgien eines der wichtigsten europäischen Fluchtziele für jüdische Flüchtlinge aus dem Dritten Reich, darunter zahlreiche polnische bzw. staatenlose Juden. Wie sich die Fluchten aus Deutschland und Österreich nach Belgien unterschieden und welche Rolle frühere Migrationserfahrungen spielten, wird ebenso beleuchtet wie die zumeist illegale Einreise, der Kampf um einen Aufenthaltsstatus oder die familiären Strategien zur Nachholung von Verwandten. Im zweiten Teil des Buches stellen die Autoren die neuerliche Fluchtbewegung innerhalb des deutsch besetzten Westeuropas ab 1941/42 dar. Während bereits die Deportationszüge nach Auschwitz fuhren, versuchten noch Tausende von Juden aus den Niederlanden und Belgien in das unbesetzte Südfrankreich, die Schweiz oder nach Spanien zu gelangen; unter diesen Juden befanden sich überproportional viele deutsche Flüchtlinge. Erstmals werden hier das quantitative Ausmaß und der Charakter beider großen Fluchtbewegungen ermittelt und beschrieben. Dem liegt eine systematische Forschung nach vielen Tausend „namenlosen“ Flüchtlingen zugrunde. Neben umfangreichen Beständen von Fremdenpolizei, Zoll- und Grenzbehörden haben die Autoren vor allem digitalisierte Massenquellen (Bevölkerungsregister, Transportlisten) ausgewertet. Statistiken und Landkarten veranschaulichen die nationale, soziale und familiäre Zusammensetzung der Flüchtlinge sowie die wichtigsten Zeiträume und Fluchtrouten. Daneben werden immer wieder Einzelschicksale aus den Akten rekonstruiert. In einzelnen Kapiteln wird auf die Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen, auf die verzweifelten Versuche der Flüchtlinge, eine Ausreisemöglichkeit aus der „Falle“ Europa zu erlangen, und auch auf Aspekte wie Fluchthilfe und die Verwendung falscher Papiere eingegangen – beides Phänomene, die für die Verfolgten von lebenswichtiger Bedeutung sein konnten. Eine Reihe von Beispielen zeigen, dass jüdische Frauen und Männer sich in länderübergreifenden Fluchthilfeunternehmen engagierten.

Ingesamt stellt sich die Situation in Westeuropa als ein „Paradox“  dar: Nachdem die Nazi die Juden gewaltsam aus dem deutschen Reichsgebiet vertrieben hatten, wurden etwa die Hälfte derjenigen, die sich in die Niederlande, nach Belgien oder Frankreich hatten retten können, mit hohem polizeilichem Aufwand wieder aufgespürt und zusammen mit den dort ansässigen Juden in die Vernichtungslager des Osten deportiert. Was sich historisch als Radikalisierung der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ darstellt, d.h. der Übergang von der Vertreibung zur Vernichtung, bildete aus Sicht der Opfer eine einzige langjährige Fluchtgeschichte.


 Insa Meinen and Ahlrich Meyer: Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938–1944 (Persecuted From Country to Country: Jewish Refugees in Western Europe, 1938–1944), Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013 (Dutch edition: Antwerpen: De Bezige Bij, 2014 – forthcoming).

Abstract

The mass phenomenon of transborder flight numbers among the most important “individual survival strategies” (Annie Kriegel) adopted by Jews during the Nazi dictatorship. While the measures by which the Jews were driven out of Germany, the restrictive asylum policies of potential host countries and the fate of those in exile have all been amply researched and described, the activities of Jewish refugees in Western Europe between 1938 and 1944 are yet to be adequately looked into. The book focuses on the survival strategies of the persecuted Jews themselves. The authors write from the perspective of the victims, pursuing the question of how Jewish men, women and entire families defended their lives. The book does not report on the saved, but on the “drowned” (Primo Levi), i.e. on the rescue efforts of those who were eventually arrested, deported and murdered in spite of their efforts to escape their persecutors.

Following the pogroms and terror the year 1938 brought within the territory of the German Reich, there emerged a new type of refugee, characterised by forced migration. Belgium was one of the most important European destinations for Jewish refugees from Nazi Germany, among whom were numerous Polish and stateless Jews. The questions of why Belgium was attractive as a host country, of how the mass flights from Austria and Germany differed from one another and of what role earlier experiences of migration played are explored, as are the Jews' mostly illegal border crossings, their struggle for a residence status and familial strategies for organising the flight of relatives left behind. In the second part of the book, the authors describe the renewed flight movements within German-occupied Western Europe from 1941/42 onward. Even as the deportation trains were already en route to Auschwitz, thousands of Jews attempted to travel from the Netherlands and Belgium into the unoccupied south of France, including a disproportionately high number of German refugees. The scale and character of both major flight movements are determined and described for the first time, on the basis of systematic research on many thousands of “nameless” refugees. Aside from the extensive file holdings of immigration, customs and frontier protection authorities, the authors have mainly evaluated digitalised mass sources (population registries, transport lists). Statistical data and maps illustrate the national, social and familial composition of the refugees and the most important migration periods and escape routes. In addition to this, individual fates are reconstructed from the files throughout the book. Single chapters discuss the controls at intra-European borders and the desperate attempts of refugees to flee the “trap” that Europe had become for them, as well as issues such as assistance to refugees and the use of counterfeit documents – two phenomena that could prove of vital importance to the persecuted. It is shown that Jewish women and men engaged in a number of hitherto unknown transnational rescue operations.

Overall, the situation in Western Europe was characterised by a paradox: after the Nazis had violently driven the Jews from the territory of the German Reich, about half of those who had succeeded in escaping to the Netherlands, Belgium or France were tracked down with considerable police effort, in order then to be deported, along with local Jews, to the death camps of the East. What appears historically as a radicalisation of the Nazi “Jewish policy” – the transition from expulsion to destruction – presented itself, from the point of view of the victims, as a single experience of flight that continued for years on end.